Cimitero Monumentale
Es ist 2 Uhr nachts. Wir liegen nebeneinander in der Via Ceresio direkt gegenüber vom Mailänder Friedhof – nur durch die Handbremse voneinander getrennt – im Auto. Nach 7,5 Stunden Fahrt haben wir endlich unser erstes Urlaubsziel erreicht: den „Friedhof der Monumente“ in Mailand. Jetzt müssen wir erstmal schlafen, auf die kostengünstigste Art. Nicht nur, weil wir bei unserem Zwischenstopp in Luzern für 4 Weißwürste 20 Euro bezahlt haben. Sondern, weil sich ein Hotelzimmer um diese Uhrzeit nicht mehr lohnt. Zelten vorm Friedhof ist auch nicht erlaubt, zudem ist da gerade eine riesige Baustelle.
Im Auto sind es zu warme 24 Grad. Ich öffne das Fenster dreifingerbreit. Schnell huscht eine Mücke nach der anderen hinein. Mein Freund wirft – auf seinem Autositz liegend – einen Blick auf das monströse Eingangsportal vom Mailänder Friedhof und sagt: „Andere warten darauf, dass am nächsten Tag ihr Popstar auftritt und wir warten darauf, dass der Friedhof öffnet…“ Wir schauen uns an und müssen grinsen. Eine Straßenbahn rattert direkt am Auto vorbei. Ich mache mir Ohrenstopsen rein und bin relativ schnell weg.
Nach 6,5 Stunden wecken mich die Hitze im Auto und Durst. Auch meine ersten italienischen Mückenstiche wollen gekrault werden. Es ist 8.30 Uhr, der Friedhof hat seit 30 min geöffnet. Am Trinkwasser-Brunnen vor dem Friedhofseingang erfrischen wir uns erstmal und 9 Uhr „sind wir drin“, im Cimitero Monumentale Milano. Ein lang gehegter Reisetraum geht für mich in Erfüllung, der vor mehr als 15 Jahren mit den schönen Fotos in Isolde Ohlbaums Bildband „Denn alle Lust will Ewigkeit“ begann…
Manchmal wird man sich besonderer Momente wirklich bewusst und hält etwas inne. Ich merke, dass mir etwas Großes bevorsteht, als ich über einen Platz mit weißem Kies auf das imposante Eingangsgebäude des Friedhofes zulaufe. In dessen rechten und linken Seitenflügel sehe ich in Galeriebögen schon die ersten Gräber mit opulenten Statuen – fast nur trauernde, verschleierte oder halbnackte Frauen. Wie Sirenen aus der griechischen Mythologie scheinen sie mich ins Innere locken zu wollen. Da muss man mich nicht lange bitten! ‚Wenn das am Eingang schon so ist, wie sieht es dann erst drinnen im Friedhof aus?‚ frage ich mich und bin freudig erregt. Endlich (!) kann ich diesen berühmten Friedhof mit eigenen Augen entdecken.
Noch ist alles morgendlich still und ich sehe nur sehr wenige Besucher. Es sind bereits 27 Grad – wird heiß heute! Der Friedhof in Mailand ist teilweise umgeben von Bürogebäuden und auch Baustellen, aber dennoch recht ruhig. Ab und an höre ich mal ein Flugzeug – ansonsten nur Friedhofsgeräusche. Nein, nicht knirschende Sargdeckel, sondern Vögel, Insektensummen, das Rascheln von kleinem Getier und auch die Zikaden erwachen so langsam.
Freilichtmuseum des Todes
Der “Friedhof der Monumente” ist offiziell ein Museum. Er wurde von 1863-1866 speziell für das reiche Mailänder Bürgertum angelegt. Hier liegen nur vermögende Bürger, die damals Macht, Status und Namen hatten. Dem einfachen Volk war früher noch nicht mal der Zutritt zum Friedhof gestattet. Sicher wurde er bewacht. Was für eine Vorstellung!
‚Da war noch Geld da…’, denke ich unweigerlich beim Anblick der riesigen Gruften, bei den massiven Marmorgräbern und den vielen außergewöhnlichen, wunderschönen Statuen. Die Familie Campari (ja, die vom roten Gesöff!) hat sich sogar Leonardo Da Vincis Gesellschaft zum „Abendmahl“ in Lebensgröße aus Bronze aufs Grab stellen lassen. Der Reichtum sollte weit über den Tod hinaus sichtbar bleiben – und natürlich musste das eigene Grab noch monumentaler und prunkvoller sein als das Nachbargrab. Auch wurden die Gruften bereits lange vor dem Tod geplant und reserviert. (Quelle)
Der Mailänder Friedhof ist gepflegt, sauber, aufgeräumt, nicht verwildert. Zypressen und die riesigen Gruften spenden Schatten. Die Wege sind mit weiß-grauem Kies gestreut. Riesig ist der Cimitero Monumentale eher nicht und im Aufbau war er zumindest für meinen Orientierungssinn gut erfassbar. Alle Grabstätten und Gruften hocken eng aufeinander, nicht so weitläufig wie im Ohlsdorfer Friedhof von Hamburg oder im Zentralfriedhof von Wien.
Trauer und Lust in Stein
Manche Gräber erzählen ganze Geschichten von Leben und Tod. Ich bleibe oft stehen, betrachte die Fotos der Verstorbenen auf den Gräbern, nicht selten ergreift mich die dargestellte Tragik innerlich. Vermutlich weil ich selbst vor zwei Monaten einen geliebten Menschen verloren habe. Vielleicht liegt es auch daran, dass auf den Gräbern selten überirdische Wesen (Engel) stehen, sondern eben Menschen. In einigen Statuen finde ich mich wieder – in ihrer Pose oder ihrem Gesichtsausdruck. Als würden sie leben oder als würde ich dort auf dem Grab liegen, sitzen oder stehen.
Schnell verabschiede ich mich davon, jede Statue fotografieren zu wollen. Hier kann man es sich leisten, wählerisch zu sein und sich wirklich nur die Besten, die Außergewöhnlichsten herauszupicken. Außerdem lohnt sich der Blick fürs Detail. Besonders die Grablaternen fallen mir auf: meist einen halben Meter hoch, jede ist individuell gestaltet, zum Teil sind auch diese mit Figuren verziert oder haben eine bizarre Form. Es gibt Unmengen davon. Häufig sieht man auch „ewige Flammen“ an Grablaternen oder Öllampen aus Bronze, Eisen oder Stein im Wind flackern.
Ansonsten mag es der Italiener opulent und was Statuen angeht, vor allem weiblich in erotischer Pose. Ich habe noch nie so viele gutaussehende Frauen auf einem Friedhof gesehen. Und auch keine Einzige ist doppelt, denn auf anderen Friedhöfen begegnete mir schon ab und zu ein und die selbe Statue auf mehreren Gräbern. Fast alle sind sie mindestens halbnackt – lasziv trauernd oder sich mehr oder weniger lustvoll dem Todesgriff entwindend. Es sind derer so viele, dass man es als Mann ziemlich schwer hat. „Das ist ja nicht zum Aushalten hier! Das ist der erste Friedhof, auf dem ich ständig Lust verspüre.“ ‚beschwert‘ sich mein Freund über die erregenden Steine…
Ich wiederum suche SIE, die Eine, die mir von Isolde Ohlbaums Bildband (#01850) besonders in Erinnerung geblieben ist. Sie soll hier auf dem Friedhof in Mailand liegen, aber nach 3,5 Stunden Suche habe ich es schon fast aufgegeben. Doch plötzlich stehe ich durch Zufall vor ihr. Diese Statue ist wirklich einzigartig. Sie ist bildschön und scheint wie eine grazile, viel zu gut aussehende Zombina aus dem Grab aufzuerstehen. Erst jetzt sehe ich, dass der Tod (zumindest seinen Schädel und die Sense sieht man, der Rest ist unter Efeu aus Bronze begraben) hinter ihr im Grab sitzt und sie an der Schulter zurückzieht. Die schöne Zombina im Todesgriff! Es ist eine Grabstätte für Vater & Sohn.
ALLE LUST WILL EWIGKEIT
O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“ (1883-1891)
Nach 4,5 Stunden haben wir – bis auf die Abteilung mit den neueren Gräbern – alles gesehen, alles bestaunt und alles gegeben. Der Magen hängt uns in den Kniekehlen. Hinzu kommt die Mittagshitze, in der Sonne ist es kaum noch auszuhalten. Zum Glück gibt es auf dem Friedhofsgelände überall Trinkwasserbrunnen. Aber auch wieder viele Mücken. Einigen davon erweise ich die Ehre, auf dem Mailänder Friedhof zu sterben.
Andere sehr schöne Eindrücke von Mailands Cimitero Monumentale findet ihr im Blog des passionierten Fotografen Marcus „Pfingstgeflüster“ Rietzsch Gedankensplitter-hinter-Glas und auch in diesem Forum einer österreichischen Reiseseite.
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Eine Seite für euch mit den wichtigsten Infos – zum Herunterladen & Mitnehmen auf Reisen: Gratis-Download Gothic Guide Mailand Friedhof