Berlin könnte so schön sein, wenn ich öfter dort wäre. Doch auch diesmal versuchte sich etwas zwischen mich und die deutsche Hauptstadt zu schieben: eine fiese Blasenentzündung. Exakt zwei Tage bevor ich dort meine langjährige Freundin Ina nach drei Jahren endlich mal wieder besuchen wollte. „Nüschd da, Du fährst!!“ tönten auf Berlinerisch die Stimmen in meinem Kopf. Auf die höre ich manchmal sogar und startete mit Unterstützung meiner Hausärztin das „Projekt Antibiotika“. Und zwar erfolgreich ;-).
Für meinen Berlin-Besuch hatte ich das letzte Wochenende im Januar unbewusst gut gewählt, denn am Samstagabend lockten zugleich das „Slaughterhouse“ und die Nacht der langen Messer „Die lange Nacht der Museen“. Leider kam ungefragt auch „Cooper“ auf dem Luftweg von Sibirien nach Berlin und brachte Eiseskälte mit Sonne und Schnee. Wir suchten also Kälteschutz. Was bietet sich da besser an als ein (beheizbarer) Bunker?
Berlin-Kreuzberg: Mutter-Kind-Bunker
Wir nutzten „Die lange Nacht der Museen“ für einen Besuch im nahegelegenen Mutter-Kind-Bunker – auch „Fichtebunker“ genannt, weil er in der Kreuzberger Fichtestraße liegt. Diesen kann man an normalen Tagen nur mit Führungen des Berliner Unterwelten e.V. begehen. In der langen Museumsnacht war er allerdings ab 18 Uhr geöffnet und man konnte ihn ohne Führung erkunden.
Und wie es sich gehört: es war dunkel. So sah ich nur einen schwarzen, riesigen Koloss mit beleuchteten Fenstern. Ich bemühte mich vergeblich, das nur schemenhaft erfassbare, wuchtige Bauwerk mit der iphone-Kamera einzufangen. Die Bezeichnung „Kamera“ sollte man beim iphone mit dem Wort „Objektivsimulation“ ersetzen. Die Fotoerfolge damit verhalten sich umgekehrt proportional zur Anzahl der fotografierenswürdigen Anlässe. Leider lag meine gute Kamera aus Antistressgründen daheim und hier bereute ich es wirklich.
Denn der Fichtebunker ist in mehrfacher Hinsicht speziell und ungewöhnlich.
Zunächst ist er ober- und nicht unterirdisch (im Fachsprech auch „Hochbunker“ genannt) und dazu formschön, nämlich rund. Das hat er seiner Geburt 1876 als Gasometer zur Versorgung der Straßenlaternen zu verdanken. Wenn es hell ist, wird aus dem schwarzen Rundling ein ockerfarbener Klinkerbau mit je 32 Rundbogenfenstern in zwei Stockwerken.
Doch als die Elektrizität in Berlin Einzug hielt, wurde der Gasometer arbeitslos. Bis zum 2. Weltkrieg, als ihn die Nazis 1941/42 im Rahmen des „Bunkerbauprogramms für die Reichshauptstadt“ zu einem Großraum-Luftschutzbunker umfunktionierten. Dazu bekam der Gasometer eine neue Außenwand mit einer knapp 2m dicken Stahlbeton-Verkleidung und ein Stahlbeton-Dach von 3m Meter Dicke. Tatsächlich bombensicher.
Hier die wichtigsten Ausmaße für alle Listenfetischisten (Quelle):
- Durchmesser: 56 Meter
- Höhe: 21 Meter
- 6 Stockwerke von je 2,60m Höhe
- je Stockwerk 120 Wohnkammern („Zimmer“ wäre der falsche Ausdruck)
- 30 Küchen
- 2 Heizkessel und ein Schiffs-Dieselmotor, wie er auch in deutschen U-Booten des 2. Weltkrieges verbaut wurde
- eine Frischluft- bzw. Gasschutzanlage abwechselnd auf jeder Ebene
Auch sein Zweck als „Mutter-Kind-Bunker“ ist außergewöhnlich. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, dass in diesem Bunker über 100 Kinder geboren wurden! „Da die Männer an der Front waren, war der Bunker ausschließlich für Frauen und Kinder vorgesehen. Die technischen Einrichtungen wurden von Männern mit leichten Behinderungen bedient.“ (Quelle)
Als ich die kleinen Wohnkammern/Schutzräume und engen Gänge sah und erfuhr, dass der Bunker für maximal 6.000 Menschen konzipiert war… puh, da kommt Beklemmung auf und starkes Unbehagen. Dann hörten wir, dass bei einem heftigen angloamerikanischen Luftangriff am 3. Februar 1945 sogar 30.000 (!!!) Personen im Fichtebunker Schutz gefunden haben sollen. Das einzige Bild, das ich dazu vor meinem geistigen Auge abrufen kann, ist eine Filmszene aus „Soylent Green“: viele, viele Menschen eng aneinander gedrängt in einem Wohnhaus, die auf Treppen sitzen und vor Hitze apathisch vor sich hindösen. Nur die hatten im Vergleich zu den Menschen im Bunker noch „Platz“.
Ich inhalierte lebendige (und fürchterliche Kriegs-)Geschichte, während wir – der Bauform geschuldet – im Kreis liefen und dabei jegliche Orientierung verloren.
Auch die Schutzräume sind ‚krass’: diese 6 qm teilten sich immer zwei Mütter mit je 4 Kindern (also 10 Personen). Es gab Duschen und Waschräume – alles einfach und karg. Damit hätte ich gar nicht das Problem gehabt, sondern mit den tausend Menschen da unten. Aufgrund gesetzlicher Vorschriften musste für 3.000 Insassen auch ein Arzt vor Ort sein (was für eine Patienten/Arzt-Ratio!). Im Mutter-Kind-Bunker mit seinen geplanten 6.000 Personen waren ständig 2 Ärzte und 1 Zahnarzt anwesend, die dort sogar noch bis 1955 praktiziert haben sollen.
Eine alte Frau berichtete als Zeitzeugin zur Museumsnacht von den Bombennächten im Mutter-Kind-Bunker und wie sie immer abends dorthin laufen mussten. Als Kind hatte sie im Bunker viele Freunde und zeigte alte „Sammelbilder“, die sie damals gegen ein paar Reichspfennige untereinander getauscht haben. Angst hatte sie tagsüber, im Bunker fühlte sie sich sicher.
Am 27. April 1945 wurde der Bunker an die Russen übergeben und diente ab 1946 als Flüchtlingslager und Rückkehrerheim für alle Vertriebenen von östlich der Oder und aus Tschechien. Ab 1950 wurde er zum Obdachlosenasyl bis 1963 – als die hygienischen Bedingungen dort unten nicht mehr zu ertragen waren. Danach wurde er umgebaut und im Kalten Krieg bis zum Fall der Mauer als städtisches Lebensmittellager genutzt (Senatsreserve). Für den Fall, dass Berlin mal vom bösen Ostblock ausgehungert werden sollte, hätten die Westberliner dann eine Zeit lang vom eingelagerten Rindfleisch oder von Ölsardinen leben können. Die Leute vom Berliner Unterwelten e.V. haben eine der Ölsardinen-Dosen geöffnet und gekostet. Alles noch essbar. Pikanter Schachzug: in diesem PDF-Dokument habe ich gelesen, dass die Senatsreserve nach ihrer Auflösung 1990 an die Russen geschickt wurde. Ironie der Geschichte!?!
Seit 2010 befinden sich oben auf dem Fichtebunker 12 tortenförmig geschnittene Luxushaus-Wohnungen. Die werden vom Immomakler „mit einem Premiumblick“ angepriesen (WTF?? Premiumblick! Was ein Gesülz…). Gegen diese Form der Gentrifizierung protestierten einige der Anwohner und Mitglieder der Initiative „Fichtebunker – Gute Geister“ mit Balkonplakaten a la „Keene Klunker uffm Bunker“. Ein weitaus sympatischerer Slogan. Obwohl die neuen Luxusmieter trotzdem auf dem Gasometer eingezogen sind…
Gothic Party im Slaughterhouse – Berlin Moabit
Nach einer kurzen Umziehbaupause bei Ina fuhren wir mit dem Bus zum Berliner Hauptbahnhof und liefen dann durch Coopers eisige Kälte zur Kulturfabrik Moabit. Dort fand im Hinterhofclub Slaughterhouse wie jeden letzten Samstag im Monat die „Factory“-Party statt. Liebe Anhänger von 80er/90er Goth & Wave und Freunde des Minimal & Synthpops: geht da bitte unbedingt hin! Ich hätte fast den ganzen Abend ‚durchgetanzt’, hätte ich dort nicht so viele nette Bekannte wiedergetroffen.
Zum einen waren das Edith und Marcus Rietzsch, die leidenschaftlichen Herausgeber des „Pfingstgeflüster“-Magazins, das jährlich zum WGT erscheint. Die beiden waren nicht ganz zufällig da, haha! Es hatte im Vorfeld doch eine gewisse Grobabstimmung und Planung gegeben und alles passte – ich habe mich sehr gefreut! Und dann tippte mir auch noch Thorleif auf die Schulter – JUHU! Ich hatte ihn bei der Party eh schon insgeheim erwartet und herbeigewünscht. Wünschen hilft manchmal! Es war echt ein wunderbarer Abend mit allen! Auch wenn man in Discos selten ein tiefgehendes, wohlverstandenes Wort wechseln kann. Das geht nur als Raucher vor der Tür (oder bei Kuchen am nächsten Tag im Cafè – scheee war’s!).
Zumal ich ständigen Impuls hatte, auf die Tanzfläche zu verschwinden… Kein Wunder bei der guten Musik: viele selten gehörte Stücke bekannter Bands und auch bisschen was Unbekanntes, z.B. dieses 80ies Stück hier entdeckte ich neu hach
Das Slaughterhouse ist eher ein kleinerer Club, schön dunkel und mit zur Jahreszeit passendem Heizöfchen, das neben der Garderobe vor sich hinblubberte. Die Leute sind sympathisch, eine cyber-freie Zone (bei der Musik auch logisch) und stattdessen viel schräg. Im Slaughterhouse gibt es auch öfters Konzerte, z.B. von Twisted Nerve und Joy Desaster, über das Marcus berichtete.
Ich wollte irgendein besonderes Charakteristikum des Clubs mit meinem Objektivsimulator festhalten. Thorleif wies mich auf den Grabstein neben der Garderobe hin (der war klein und ging daher etwas unter). Während ich den fotografierte, sagte mir die hübsche Undercut-Frau an der Garderobe, dass sie aber auch nicht wüsste, wer diese Sandra sei, deren Name auf dem Grabstein steht. Wir rätselten, aber es konnte nicht die 80er-Jahre Pop-Sängerin sein (Maria Magdalena, In the Heat of the Night, Everlasting Love…na, ihr wisst schon!). Also wer weiß, was es bei der „Factory“-Party mit dem Sandra-Grabstein auf sich hat: bitte in den Kommentaren die Unwissenheit aufklären. Alle Slaughterhouse-Gänger danken!
Da man die deutsche Hauptstadt eh nur in Etappen nehmen kann und sollte, weil sich so alles besser genießen und verdauen lässt, war das nicht mein letzter Besuch. Nur mal so als Drohung…
DANKE, Ina, für dieses wunderschöne Wochenende! Es war wie früher – nur mit dem frischen Geschmack von heute.
Route planen zum Fichtebunker und zur Gothic-Party im Slaughterhouse
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