Das dürre Katzenkind drückt sich zitternd an den Sockel des Hauses, nachdem es uns entdeckt hat. Als wir näher kommen, wirft es mir einen scheuen Blick aus riesigen Augen zu und stakst davon. Wie die meisten Katzen in dieser Stadt ist es nur ein Gerippe – mit Fell überzogen. Dieser Anblick bereitet uns ein wenig auf das vor, weshalb wir überhaupt nach Sizilien gefahren sind: die Mumien von Palermo.
Schon seit 10min laufen wir durch die „berüchtigte“ Hauptstadt Siziliens und ich bin so unruhig, als hätte ich in der zweiten Spur geparkt. Das ist nicht der Fall. Mein Auto steht 50m von einer Kirche entfernt am Straßenrand, dort parken wir zwar unbewacht, aber fast schon mit Gottes Segen – und einem Schloss zwischen Lenkrad und Bremspedal. Doch würde ein Italiener (m)einen Opel klauen? Die haben ja auch ihren Stolz. Wiederum: die Sizilianer sind arm und besonders merkt man das in Palermo.
Unergründliche Wege
Dummerweise sind wir ohne Stadtplan losgelaufen – in der einfältigen Annahme, dass die Stadt nicht besonders groß und die berühmte Kapuzinergruft in Palermo überall ausgeschildert sein wird. Aber mit Hinweisschildern zu den „Catacombe dei Cappuccini“ haben sie es hier nicht so. Wir fragen zwei Carabinieri. Sie sind nett, weisen uns grob die Richtung und schenken uns einen Stadtplan mit dem Hinweis, dass die Kapuzinergruft Palermo dort nicht drauf ist, weil sie zu weit außerhalb liegt. Ich mag es ja, wenn man sich skurrile Reiseziele erarbeiten muss. Besonders bei 35° im Schatten.
DA! Ein Straßenschild mit „Via Cappuccini“ – von der sprachlichen Richtung her wird es (noch) heißer. Ein alter Mann döst im Schatten eines Baumes. Ich will ihn nach den Katakomben fragen, aber er schaut nur meinen Freund an und fragt „Catacombe, eh?“ Richtig vermutet. Er grinst uns an, zeigt dabei drei verbliebene Kuchenzähne im Mund und bedeutet uns mit Gesten, dieser Via Cappuccini bis in alle Ewigkeit zu folgen.
Irgendwann – wir sind nun mehr als 45min unterwegs – stehen wir auf einem Platz mit Verkaufsständen und parkenden Autos. Es ist die Piazza Cappuccini. Das größte Gebäude hier ist ein schlichtes, einstöckiges, größeres Haus in terracotta-ocker-Farben. Es ist das Klostergebäude der Kapuzinermönche und in eine Ecke gepresst entdecke ich den „Ingresso Catacombe“, den Eingang zur Kapuzinergruft. Das habe ich mir zwar etwas spektakulärer vorgestellt, aber auf die Verpackung kommt es letztlich nicht an. Wichtig ist, was im Keller steckt.
Die Mumien von Palermo sind kein Geheimtipp mehr. Das wusste und merke ich an den Postkartenständern am Eingang, flankiert von Büchern zur „Sizilianischen Küche“ in sechs verschiedenen Sprachen. Ein paar fliegende Händler verkaufen Kaltgetränke, die sie aus den abenteuerlichsten Ecken ihrer klapprigen Autos herbeizaubern. Überfüllt ist es am Eingang trotzdem nicht. Ein Kapuzinermönch in Zivil, also ohne braune Kutte, kassiert den mickrigen Eintritt von 3 EUR pro Person. In einen Glaskasten eingesperrte Rosenkränze und Jesuskreuze warten direkt neben der Kasse darauf, gekauft zu werden. Für die zarten Gemüter etwas zum Kneten & Beten… Ich will endlich sehen.
Der größte Mumien-(Alb)Traum der Welt
Es ist nicht direkt ein Abstieg, sondern eher ein Nachuntenlaufen auf der geneigten Ebene. Durch einen Gang mit alten, dicken, geweißten Wänden schreiten wir in die Tiefe. Am Ende des Gangs öffnet sich ein großer Gewölbekeller.
Und dann hängen sie neben mir – schlaff an Haken an der Wand. Schädel mit verzerrt geöffneten Mündern scheinen stumm zu stöhnen oder zu schreien. Augenhöhlen lugen unter Kapuzen hervor. Sie tragen viel zu große Kleider, Mäntel, Kutten oder mit Gold und Staub besetzte Talare. Fast alle haben Handschuhe an. Mein erster Gedanke ist:
Wie in einer riesigen, historischen Kleiderkammer – nur mit Skeletten statt Schaufensterpuppen.
Bis unter die Gewölbedecke stehen, liegen oder hängen sie übereinander – jede Mumie in einer Nische für sich allein. Manche sind in offenen oder verglasten Särgen aufgebahrt oder stehen auf Sockeln an der Wand, ungelenk in sich verrutscht, nur noch vom Draht an der Wand gehalten. Meist hängen die Köpfe wie bei Schlafenden im Zug vornüber.
Zunächst bin ich fassungslos – und zwar über die Offenheit des Todes und seine vielen Gesichter: grotesk, schmerzverzerrt, ergeben, grinsend, leidend. Bin angenehm überrascht darüber, dass sich der Tod hier nicht versteckt oder wissenschaftlich steril präsentiert. Meine bisher gesichteten Mumien lagen immer in Särgen hinter Gittern oder im Museum. Hier brauche ich nur den Arm ausstrecken und könnte sie berühren.
Nach ein paar Minuten erfasse ich erst die schiere Masse an Leichnamen. Es sind ca. 2.000 Menschen, die sich hier post mortem versammelt haben. Es ist so unwirklich – bin ich noch in der Gegenwart oder schon auf Zeitreise in die Vergangenheit? Unmengen von Leichen – nicht weggesperrt, vergraben oder verbrannt. Sie sind zwar tot, aber irgendwie doch nicht, sondern hängen wie in einer morbiden Ahnengalerie an der Wand – statt Öl auf Leinwand stehen die Mumien von Palermo in Nischen. Ein Keller der Erinnerung an vergangene Jahrhunderte und Menschen.
Die Mumien von Palermo sind kein harmloses Memento Mori. Manchmal ist es erdrückend und fast zu viel – je nachdem, wie stark ich mich auf die einzelnen Personen einlasse. Es ist unvermeidlich, über sie nachzudenken. Ich lasse mir viel Zeit, schaue sie genau an, denn jeder Tote ist interessant und hat mir etwas zu sagen. Dank der Kleider wirken sie gar nicht tot, sondern eher schlafend. Als könnten sie jederzeit erwachen und von ihrem Schicksal erzählen – vor 400 oder vor 200 Jahren. Ich hätte sie zuerst gefragt, warum sie sich mumifizieren lassen wollten. Weil es so üblich war in den besseren Kreisen Palermos, um dazu zu gehören? Geschah es eher auf Wunsch der/des Verstorbenen oder der Angehörigen? Konnten sie den Tod ihrer Lieben besser verarbeiten, wenn sie statt zu einem steinernen Grab zu einem mumifizierten Antlitz sprachen? Ich mache mir Gedanken und laufe die Gänge mehrfach entlang. In einem steht eine Mumie, die sehr gut erhalten ist und mich mit den Augen verfolgt, egal wohin ich gehe. Ich muss an diese gemalten Portraits denken. Unangenehm ist das und ja, auch etwas unheimlich.
Aber diese Kleider! Es ist wirklich wie in einer antik-morbiden Kleiderkammer. Stil, Accessoires und Mode vergangener Jahrhunderte, der Chic der High-Society von Palermo, Gewänder von Würdenträgern, die favorisierten Stoffe der betuchten Gesellschaft – all das kann man problemlos der Kleidung der Mumien entnehmen und spart sich das Heimatmuseum. Die Frauen und unverheirateten Mädchen („virgins“) tragen Häubchen, Rüschen und mit Spitze besetzte Kleider oder Röcke. Von Motten zerfressen und durchlöchert. Knöpfe bröckeln, Fäden seilen sich ab. Aus Weiß ist im Laufe der Jahre dreckiges Grau geworden. Manche Frauenmumien wirken dadurch wie Gespensterinnen in alten Schlössern, andere wie aus einem Zombiefilm. Oder wie Norman Bates’ Mutter in „Psycho“ – nur häufig sind die Leichen besser erhalten. Es ist nicht gruselig für mich, eher faszinierend speziell. Kindern unter 12 Jahren würde ich diesen Anblick jedoch ersparen (es sei denn, sie schauen bereits Horrorfilme zum Frühstück). Ich habe einige beobachtet – sie schienen verstört, mit großen Augen, offenen Mündern und sie liefen sehr schnell.
Das Richtige für eine Kinderwelt ist dieser Keller nicht.
Das Kellergewölbe ist übrigens wesentlich größer als ich erwartet hatte und so „rotten“ wie seine Insassen. Das schafft eine unvergleichbare Atmosphäre. Putz bröckelt von den Wänden. Schimmel frisst sich in so manche Nische, aus der ihr Bewohner gerettet wurde. Staub von Jahrhunderten liegt auf Särgen. Spinnweben haften zwischen Nase und Spitzenhäubchen.
Mumien in Palermo – wie es dazu kam…
Die Kapuzinermönche siedelten sich 1534 vor den Toren Palermos an. 65 Jahre später wurde es etwas eng für die verstorbenen Ordensbrüder, die unter dem Konventsgebäude begraben lagen und die Gruft sollte unterirdisch erweitert werden. Als die Kapuzinermönche ihre längst Verstorbenen an eine neue Stelle verlagern wollten, blickten ihnen statt Skeletten sehr gut erhaltene Trockenmumien entgegen. Diese wurden auf Geheiß des Abts an den Wänden des Gewölbekellers aufgestellt: zur Mahnung an die lebenden Brüder, sich auf ihren Tod sorgfältig vorzubereiten.
Die nächsten 70 Jahre danach dienten die heutigen Katakomben Palermos ausschließlich den verstorbenen Mönchen als unterirische Grabstätte, von denen einige in Einzelsärgen an den Seiten des ersten Gangs begraben wurden. Allerdings wurde der Druck der reicheren Gläubigen, die gleichzeitig die Wohltäter des Klosters waren, auf die heiligen Brüder immer größer. Sie wollten auch in der Nähe ihrer Ordensleute begraben werden. Sporadische Zugeständnisse an die Wohltäter nahmen zu. Irgendwann wurden nicht nur Mönche, Bischöfe und Priester in ihren besten und typischen Kleidern bestattet und mumifiziert, sondern auch Ärzte, Schriftsteller, Maler, Offiziere und Rechtsanwälte, die alle unter der Bezeichnung „Professionisten“ in einem Gang liegen. Denn – ungewöhnlich für einen Friedhof – wurden die Toten gruppiert in unterschiedlichen Gängen nach ihrem sozialen Rang. Männer und Frauen liegen getrennt. Obwohl die Toten während ihrer Mumienlaufbahn genügend Zeit hatten, sich von jeglichem Standesdünkel zu verabschieden – an den Kleidern erkennt man es doch! So war es wohl auch gedacht: im Tod sind nicht alle gleich, nur gleich tot.
Es gibt auch eine recht große Kinder-Abteilung mit mumifizierten Babys, Totgeborenen und Kleinkindern bis 4 Jahre. Ich muss schlucken. Liebe und Leid. Sein totgeborenes Kind zu mumifizieren… das wäre heutzutage einfach unfassbar. Auch wenn sicher manche Eltern aus Schmerz ihr Kind so festhalten wollen.
Körper und Gesichter aus 5 Jahrhunderten, die sich langsam auflösen. Ein Teil der Stirn hat sich bereits zersetzt, Schädeldecken lösen sich ab. Löcher fressen sich durch Wangen und Augenhöhlen. Unterkiefer kippen weg. Ohren schrumpeln. Haut hängt wie Leder in Fetzen. Oft sacken die Köpfe wegen morscher Halswirbel zur Seite oder nach hinten, noch häufiger nach vorn. Manche Mumien wirken regelrecht grotesk, andere wie Statisten in einem Horrorfilm.
Mehr als zwei Jahrhunderte hielt das Verlangen der besseren Kreise Palermos nach dieser Bestattungsart an – ein gesellschaftliches Phänomen, aus heutiger Sicht jedenfalls. 1837 wurde es von der Regierung verboten. Es fanden zwar noch bis 1881 Bestattungen statt, allerdings mussten die Mumien in Särgen aufgebahrt werden.
Drei Methoden der Leichenerhaltung
Wie riecht es eigentlich in der Kapuzinergruft? Nun, besser als in manchem Altenheim. Es mümmelt nach Kellergewölbe, aber nicht nach Leichen. Denn hier unten sind nur Trockenmumien – die können gar nicht riechen. Für faule Gerüche fehlen ihnen das Blut und die Eingeweide.
Wie wurden die Mumien von Palermo mumifiziert?
Die älteste und gebräuchlichste Methode zur Konservierung dauerte fast ein ganzes Jahr. Die Mönche brachten die Leichname in unterirdische Kammern, die von den Gängen der Kapuzinergruft wie kleine Fuchsbaulöcher abzweigen. In eine kann man beim Rundgang hineinschauen. Sie bestehen aus Tuffstein – einem weichen Gestein vulkanischen Ursprungs. In diesen Kammern ohne Luftzufuhr entnahm man den Toten die Eingeweide und legte sie über Terrakotta-Röhren auf den Boden oder auf in den Tuffstein gehauene Bänke. Dort konnten die Leichen aussaften in die Röhren und den porösen Tuffstein – beides saugte die Leichenflüssigkeit gut auf. Diese Grotten wurden „colatoio“ genannt, zu deutsch: „Sickerwasser“. Wie treffend. War der Leichnam nach ca. acht Monaten komplett ausgetrocknet, wurde er herausgeholt, mit Essig gewaschen und einige Tage an die Luft gesetzt. Danach wurde der Oberkörper mit Stroh ausgefüllt, wieder angezogen mit den Sachen, die die Familie für den Toten ausgesucht hatte und in eine Nische gestellt oder gehängt. Bezahlte die Familie nicht genug oder war keine Nische frei, kam die Mumie auch in einen Sarg.
In Zeiten von Epidemien wurden die Toten dagegen in Arsenbäder getaucht, erkennbar an der rötlichen Farbe der Mumien, oder in Bäder aus Wasser und Kalk.
Rosalia Lombardo
Die kleine Berühmtheit der Mumien in Palermo – „The Sleeping Beauty“ – ist Rosalia Lombardo. Sie gilt als „schönste Mumie der Welt“ und wurde nachträglich zu einer Zeit in die Katakomben gebracht, als Beisetzungen dieser Art dort schon verboten waren. Rosalia Lombardo starb am 6. Dezember 1920 an der Spanischen Grippe. Ihr zutiefst trauernder Vater, General Mario Lombardo, bat seinen Freund und Arzt Dr. Alfredo Salafia, seinem Kind durch Einbalsamierung ewiges Leben einzuhauchen. Salafia tauschte ihr Blut gegen eine speziell angereicherte Formaldehydlösung, die er über eine Art Tropf in ihre Adern laufen ließ. So sieht dieses tote Mädchen mit seinen heute 92 Jahren immer noch aus als wäre es zwei Jahre – wie bei ihrem Tod.
Der Sarg von Rosalia Lombardo steht in einer speziell für sie eingerichteten Kapelle (also nicht in der Kinder-Abteilung). Diese ist vergittert und ihre Leiche liegt in einem Sarg mit einem Glasdeckel, der gut spiegelt. Das, was ich erkennen kann sieht gut aus, aber die verfallenen Mumien faszinieren mich prinzipiell mehr.
Mumien-Mythen
Im Web wird über die Mumien von Palermo so viel Müll, Pietätloses und jede Menge Unwahrheiten geschrieben, dass es schon weh tut. Ich möchte etwas aufklären. In einem Artikel wird behauptet, die Körper seien zur Mumifizierung angeblich in der Sonne getrocknet worden. Wahrscheinlich hatte der Autor zu lange am Strand gelegen. Im gleichen Text wird auch noch taktlos kolportiert, man könne froh sein, dass dort unten kein Pferd vorbeikommt und die Leichen anfrisst, da die Oberkörper mit Heu/Stroh ausgepolstert sind. WTF??
Der dritte Mumien-Mythos/Hoax stammt aus Zeiten des 2. Weltkriegs. Leider wurden am 11. März 1943 einige Teile der Kapuzinergruft von Palermo durch einen Luftangriff zerstört. Man sagt nun den Amerikanern nach, sie hätten damals einige Mumien aus den Katakomben als Souvenir mitgenommen. Das kann ich mir besonders gut vorstellen: coming home mit einer Mumie unterm Arm! Auch wenn damals die Einreisebestimmungen in die USA noch nicht so streng waren und man froh war, wenn überhaupt jemand aus dem Krieg wiederkam… Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich zu den entsprechenden Artikeln verlinken. Aber ich verlinke nur empfehlenswerte Seiten, keinen Schrott. Berufskrankheit.
Nichts ist für die Ewigkeit
Die kleine Rosalia Lombardo wird die Mumien von Palermo wohl alle ‚überleben’. Denn es ist leider fraglich, wie lange sich die anderen, älteren Insassen noch halten – in Anbetracht des Verfalls ihrer selbst und des Kellergewölbes ringsum. Ich befürchte, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis renoviert, restauriert, konserviert und wissenschaftlich inspiziert wird. Zudem werden die Mönche schon jetzt kaum mehr Herr über den Besucheransturm und werden sich etwas ‚einfallen’ lassen müssen. Wenn es nach mir ginge, wären die Katakomben Palermos längst Weltkulturerbe. Definitiv muss dieser unterirdische Friedhof in seiner Einzigartigkeit unbedingt erhalten bleiben. Aber dafür wird wohl sein morbider Charme geopfert werden, der dieses Totenreich durchzieht wie keine andere gruftige Sehenswürdigkeit. Als Preis für ein bisschen mehr Ewigkeit. Ihr solltet euch also mit einem Besuch in Palermo nicht zu lange Zeit lassen.
Ich bin mir jedenfalls sicher: was Mumien angeht, so habe ich mein Lebensziel erreicht.
Route planen zu den Katakomben von Palermo
Eine Seite für euch mit den wichtigsten Infos – zum Herunterladen & Mitnehmen auf Reisen: Gothic Guide Mumien von Palermo – Katakomben Palermo