Es gibt Sachen, die mache ich einfach viel zu selten: mich in den Zug setzen (das mache ich oft) am Samstag (so gut wie nie) und extra in eine Stadt zu fahren um dort liebe Bekannte zu treffen (kommt vor) um gemeinsam den städtischen Friedhof zu besichtigen (wenn ich Zeit habe). Ich präzisiere: viel zu selten fahre ich extra in eine Stadt, um mir ausschließlich den Friedhof anzuschauen. Friedhofsausflug statt Städtetrip sozusagen. Dazu stifteten mich die „Boten des Todes“ Katharina und Parm vom Schemenkabinett an. Friedhofsobjekt der Begierde war der Melatenfriedhof in Köln. Die Beiden wollten die Grabsymbolik aus dem Tier- und Pflanzenreich entdecken und das haben sie auch – sehr interessant wie immer nachzulesen im Blog des Schemenkabinetts. Da ich den Melatenfriedhof auch noch nicht kannte, aber schon immer mal sehen wollte, war das ein guter Plan.
So lag ich an einem Samstagmorgen um 10 nicht wie sonst noch im Bett, sondern schon im Sitz des ICE von Mainz nach Köln. Später wurde ich am Kölner Neumarkt von Berufskollegen beobachtet, die erwarteten, mich noch bei einer gerade in Köln stattfindenden Online Marketing Konferenz zu treffen. Hinterher bekam ich Tweets: „Wo warst Du denn? Gar nicht mehr gesehen?“ – „Ich war da gar nicht. Sondern auf dem Melatenfriedhof.“ Was Grufties am Wochenende halt so machen…
13 Uhr schritten Katharina, Parm und ich durch den Süd- und Haupteingang an der Aachener Straße. Es ist immer verblüffend: man braucht nur in das Reich der Toten einzutreten, schon scheint der Lärm der Straße vor den Friedhofstoren stehen zu bleiben. Die Geräuschkulisse schaltete um von „Verkehr“ auf „Park mit Vogelgezwitscher“. Wie sie das nur machen, diese Friedhöfe!?
Zunächst wurden wir von jeder Menge schöner Grabstätten ‚überfallen’. Dann kam der erste Friedhofsweg-Kreisel und wir bogen rechts in eine neue Grabsiedlung ein, derer wir bald überdrüssig wurden. Neuen Gräbern fehlt einfach die Ausstrahlung. Stattdessen genossen wir die warmen Sonnenstrahlen an diesem doch recht kühlen Apriltag. Sogar blauer Himmel war ganztägig im Angebot. Ideal für Fotos und um in dieser Oase einen kleinen Zipfel des selten gesehenen Frühlings 2013 zu genießen.
„Melaten“ kommt tatsächlich von „malade“ – dem französischen Begriff für „krank“. Denn ab dem 12. Jhd. lebten hier vor den Stadttoren von Köln die Aussätzigen: der damalige Gutshof Melaten war Teil eines Heims für Leprakranke und das für fast 500 Jahre bis 1767. Nachdem die Krankheit besiegt war, dienten die Gebäude des Melatenhofes bis 1801 als „Zucht- und Arbeitshaus“ und danach kurzzeitig als Waisenhaus. Unter seiner französischen Besatzung verbot Napoleon 1804 mit dem „Décret sur les sépultures“ die Bestattung innerorts und verwies die Toten, besonders aus hygienischen Gründen, vor die Stadttore. So kaufte die Stadt Köln den Melatenhof und das umliegende Gelände, riss die meisten Gebäude ab und funktionierte das langjährige Leprakranken-Asyl zum Zentralfriedhof und „Gottesacker der Stadt Köln“ um. Die Kapelle des ehemaligen Lepra-Heimes wurde in den Friedhof integriert.
Bei der Gestaltung des Melatenfriedhofs soll angeblich der Pariser Friedhof Père Lachaise als Vorbild gedient haben, wobei ich da keine Ähnlichkeiten erkennen konnte – dann eher von der Anlage her zum Zentralfriedhof Wien, wenn auch bei weitem nicht so groß wie der Wiener Zentral. Größenvergleiche sollte der Kölner Melatenfriedhof besser meiden, auch wenn hier 56.000 Menschen begraben liegen – groß ist er nicht wirklich. Wenigstens kann man sich nicht verirren. Davon habe ich seit Campo Verano in Rom sowieso genug.
Als der Hof Melaten 1810 zum Friedhof geweiht wurde, sah er übrigens nicht zum ersten Mal Tote. Denn bereits im Mittelalter war Melaten eine öffentliche Hinrichtungsstätte der Stadt Köln. Im 17. Jhd. wurden hier mehr als 30 Frauen und Mädchen während der Hexenverfolgungen auf dem Gutsgrundstück Melaten verbrannt. Durch ihr trauriges, hartes Schicksal wurde die angebliche Hexe Katharina Henot berühmt. 400 Jahre später hat der Kölner Stadtrat am 28. Juni 2012 die sozialethische Rehabilitierung der Opfer der Hexenverfolgungen beschlossen. Dies geschah auf Ansinnen der Nachfahren Katharina Henots. Schön und gut, aber was bringt das wem? Genugtuung nach 400 Jahren?
Ich hielt auch immer mal Ausschau nach den hier bestatteten Berühmtheiten. Denn auf dem Melatenfriedhof „lebt ganz private Familiengeschichte neben den vielen Prominenten wie Nicolaus August Otto (1832 – 1891), der 1876 den Viertakt-Motor vorstellte; … Schauspieler wie René Deltgen (1891 – 1974) … Maria Clementine Martin, die berühmte Klosterfrau mit dem Melissengeist (1775-1843), oder die Familie Farina mit dem Schöpfer des „Eau de Cologne“ (Quelle: Melatenfriedhof.de) Hier liegen Dirk Bach und auch der Gründervater aller Verleger Marcus Johann Theodor DuMont (1784-1831) neben Schriftsteller Heinz Günther Konsalik. Oder die Bankier-Familie Oppenheim neben der Theaterschauspieler-Familie von Willy Millowitsch. Dessen Grab sah ich – und das der Familie Stollwerck.
Der Schokoladenfabrikant Ludwig Stollwerck hat mich besonders beeindruckt. Er war ein technischer Pionier mit Sinn für Marketing. Ludwig Stollwerck brachte den ersten Schokoladen-Verkaufsautomaten in Deutschland auf den Markt, nach dem er die „stummen Verkäufer“ in den USA gesehen hatte. Das Modell „Merkur“ mit Spieluhr ist in meinen Augen der wunderschönste Automat, den ich je gesehen habe. 1890 verkaufte Stollwerck 18 Millionen Tafeln Schokolade allein über seine Automaten – gut, bei dem hätte ich auch gekauft! Damit nicht genug: Stollwerck entwickelte auch einen Phonograph mit essbaren Schoko-Schallplatten. Die sogenannte „sprechende Schokolade“ spielte vermutlich in jeder 3. Rille „Iss mich, iss mich!“ ab. Wir wissen es nicht . Wie ich durch den Kommentar von Volker Wendeler (siehe unten) erfuhr, ist das von mir entdeckte Grab der Familie Stollwerck im Bild nicht das von Ludwig Stollwerck, sondern von der Familie seines älteren Bruders Heinrich Stollwerck. Ludwig Stollwerck & Familie sind in einem eigenen Mausoleum beigesetzt in der Abt. 73a.
Wir suchten nach älteren Gräbern – und natürlich nach dem berühmten „Sensenmann“ von Köln. Dafür zauberte Parm eine Mappe hervor, die einen ausgedrucktem Friedhofsplan und weiteres Infomaterial enthielt. Es gab zwar nicht für jeden von uns ein Handout, aber wir hatten somit die Person identifiziert, die sich auskannte. Während wir Frauen fasziniert von einem Grab zum nächsten sprangen und Schönes fotografierten, betätigte sich Parm erfolgreich als unser Friedhofsführer und Grabsymbol-Scout. Je weiter wir zur Mitte des Friedhofs und zum linken, offensichtlich historischen Teil von Melaten kamen, nahm die Gruften-Dichte zu. Es gab schon viele sehr alte Gräber, manche schön in ihrem morbiden Verfall, andere total überwuchert und vergangen und viele waren auch dezent restauriert worden.
Man muss nämlich wissen, dass der Melatenfriedhof ein sehr sinnvolles System von Grabpatenschaften hat, das 1981 eingeführt wurde und auch anderorts Schule machte.
Dabei wählt sich ein Pate eine denkmalgeschützte Grabanlage aus, deren Nutzungsrecht abgelaufen ist, und pflegt und erhält sie dann. Als Gegenleistung steht dem Paten das Recht zu, in diese Grabstelle beizusetzen. Nutzungsgebühren fallen erst nach einer neuen Beisetzung an. Der Name des zuvor Bestatteten wird zuweilen auf der Rückseite des neuen Grabsteines eingraviert. Dieses Patenschaftssystem stellt die Restaurierung und den Erhalt vieler historischer Grabmale sicher. (Quelle: Wikipedia)
Auch der Freundeskreis Melaten hat auf seiner Website liebevoll viele gute Informationen über den Melatenfriedhof zusammen getragen und engagiert sich aus völlig unmorbiden und dennoch befürwortenswerten Gründen für ihn. „Wer Grabmalkultur als wichtig erachtet und in das 21. Jahrhundert leiten möchte, darf sie nicht zerstören – nur weil eine Frist abgelaufen ist. (…)Wir fordern in unserer Gesellschaft einen Ort, an dem der Begriff „Ruhe“ etwas zählt. Sollten wir uns allen nicht am Ende des Lebens einen kleinen Platz zugestehen, der frei von Bürokratie und ökonomischen Sachlagen die Möglichkeit bietet, die Dinge einfach einmal zum Stehen zu bringen? Jeder, der das genau so sieht, kann sich im Freundeskreis eintragen.
Famous Sensenmann hätte ich vermutlich nicht ohne Plan gefunden. Versteckt in der zweiten Reihe eines Rondells, verschmilzt er farblich in seinem verwitterten angegrünten Mantel beinahe mit den Fichten, in die er hoch hineinragt. Ich musste sogar zweimal hinsehen, um seine Sense zu erkennen. Aber ich muss sagen: Allein wegen ihm hätte sich der Trip gelohnt. Ich werde das Twitter-Stück umschreiben: „Wo warst Du denn? Gar nicht mehr gesehen?“ – „Ich war da gar nicht. Sondern beim Sensenmann.“
Habe ja auch schon viel gesehen, aber der Gevatter ist wirklich etwas Besonderes und ein beeindruckendes memento mori.
Beim Gevatter Tod trennten wir uns, damit jeder den Friedhof noch mal auf eigene Faust entdecken konnte. Katharina und Parm jagten Grabsymbole und ich die Gesamt-Atmosphäre. Die „Millionenallee“ – die lange, breite Straße mit den Prunkgräbern der ganz Reichen – beeindruckte mich. Ich taufte sie still um in „Mall of Death“. Der Melatenfriedhof verströmt regionale, deutsche Geschichte en masse. Er ist für die Kölner ein Gelände, auf dem sich Historie und das Heute treffen. Wie immer nehmen sie selbst den Tod lockerer als Andere und nutzen den Friedhof als Park und Naherholungsgebiet. Karnevalsumzüge wird es aber in absehbarer Zeit keine geben. Trotzdem: Auf dem Melatenfriedhof wird mehr gelebt als gestorben. Tiere, Vögel und Pflanzen mitten in der Innenstadt und viele Menschen. Der Tod ist das Tor zum Leben – lese ich auf einem Grabstein. Auf einem anderen wird gemahnt:
„Seid bereit
Alle Zeit
Immer droht
Uns der Tod.“
Nach 4 Stunden Melaten hatten wir alles gesehen. Mein Fazit: Wirklich sehenswerter Friedhof – extra deswegen hinfahren lohnt sich schon wegen des Sensenmannes. Sollte es mal DSDS für Friedhöfe geben, hat Melaten unter deutschen Friedhöfen klar die Nase vorn und Chancen aufs Siegertreppchen. International sind seine Gewinnchancen bei mir jedoch geringer – verglichen mit Wien, Rom, Paris oder Mailand hat er es schwer. Wenn es aber mal um die dunkle Vergangenheit gehen sollte, darf der Kölner Melatenfriedhof seinen Einsatz nicht verpassen. Da könnten auch die großen Friedhöfe ganz blass gegen aussehen.
Was ist Euer Lieblingsfriedhof – in Deutschland und/oder international?
Jeder Totenacker hat seinen Reiz und ist eine Oase für die Sinne. Aber am meisten beeindruckt hat mich wohl von den Grabstätten und Nekropolen und einfach dem Gesamtbild der Campo Verano in Rom. Was die Statuen angeht, kommt gleich danach der Wiener Zentralfriedhof. Auch Père Lachaise hat bleibenden Eindruck hinterlassen. In Deutschland fällt mir noch der Südfriedhof Leipzig ein – ganz was Besonderes – und auch der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg soll ja wunderschön sein. Aber da war ich leider selbst noch nicht.
Danke an Katharina und Parm für einige der hier im Beitrag verwendeten Fotos.
Route planen zum Melatenfriedhof Köln
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